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BUCHBESPRECHUNG/199: Philipp Staab - Digitaler Kapitalismus. Markt und Herrschaft in der Ökonomie der Unknappheit (Klaus Ludwig Helf)


Philipp Staab

Digitaler Kapitalismus. Markt und Herrschaft in der Ökonomie der Unknappheit

von Klaus Ludwig Helf, April 2021


Ein Schreckgespenst geht um, nicht nur in Europa, sondern global: der "Digitale Kapitalismus" - Begriff und Phänomen wurden bereits im Jahre 1999 geprägt und analysiert sowohl von Dan Schiller, US-amerikanischer Medienhistoriker, und von Peter Glotz, ehemaliger SPD-Vordenker und Kommunikationswissenschaftler. Spätestens seit der Finanzkrise 2008/09 sind die Auswirkungen der kapitalistischen Strukturen und der digitalen Technologien auf nahezu alle gesellschaftlichen Bereiche sowohl in wissenschaftlichen als auch in journalistischen Kontexten wieder vermehrt zum Gegenstand von Analysen geworden. So hat auch der scharfsinnige und streitbare Publizist und Netz-Aktivist Sascha Lobo in einem SPIEGEL-Artikel im Jahr 2014 den Plattform-Kapitalismus am Beispiel des Fahrdienstes UBER ins Visier genommen und damit einer breiteren Öffentlichkeit bekannt gemacht. Was oft als Sharing Economy bezeichnet werde - so Lobo -, sei in Wirklichkeit Teil einer neuen digitalen Wirtschaftsordnung, der Plattform-Kapitalismus. Waren die klassischen Mittelsmänner auf dem Markt Händler, so seien die digitalen Plattformen eine Art Meta-Händler, die Zugang und Prozesse eines ganzen Geschäftsmodells regelten und kontrollierten. Sie seien ökonomische Systeme, die Geld verdienen, indem sie Dritten ermöglichen, Geld zu verdienen.

Genau da setzt der vorliegende Band von Philipp Staab an und geht noch darüber hinaus. Im digitalen Kapitalismus - so seine These - gebe es keine freien, neutralen Märkte mehr, da diese den privaten digitalen Plattformen selbst gehörten ("proprietäre Märkte"). Als Monopolisten könnten sie den Zugang zu den Märkten kontrollieren, digitale Güter, die eigentlich nicht knapp sind, verknappen und hohe Gewinne erzielen. Gewinner im digitalen Kapitalismus seien nicht nur die digitalen Plattformen, sondern zum Teil auch die Konsumenten selbst. Verlierer dagegen seien alle, die digitale Güter und Dienstleistungen produzierten.

Philipp Staab, Professor für Soziologie der Zukunft der Arbeit am "Einstein Center Digital Future" der Humboldt-Universität zu Berlin, beschäftigt sich mit den Arbeitsbedingungen in der digitalen Arbeitswelt, insbesondere im Bereich der Dienstleistungen und der Entwicklung von Start-ups.

Nach einer Einführung über den Post-Neoliberalismus folgen fünf Kapitel zur Analyse des aktuellen Kapitalismus in seinen zentralen Dimensionen. Das letzte Kapitel beschäftigt sich mit den Optionen, die sich uns bieten und damit die Frage, ob eine "gute digitale Gesellschaft" möglich sei. Industrie- und Finanzgiganten seien seit 20 Jahren von den oberen Rangplätzen der erfolgreichen Unternehmen verdrängt worden von den global agierenden Internetgiganten GAFA (Akronym für Google, Apple, Facebook, Amazon und Co) und BAT (Akronym für die chinesischen Plattformen Baidu, Alibaba und Tencent). Der digitale Wirtschaftsraum sei das zentrale Wachstumsfeld der Weltwirtschaft mit "privaten Märkten" einer sehr kleinen Zahl sehr großer Monopol-Unternehmen.

Philipp Staab analysiert den digitalen Kapitalismus aus unterschiedlichen Perspektiven und weist beispielhaft nach, wie digitale Überwachungs- und Bewertungspraktiken in Bereiche der Wirtschaft vordringen und damit die soziale Ungleichheit verschärfen:

"War der klassische Merkantilismus eine Operation von Segen und im Interesse des Staates, ist der digitale Kapitalismus eine Unternehmung marktgleicher Konzerne, die zwar von einem investiven Staat stark profitieren..., zur allgemeinen Wohlstandsmehrung aber selbst kaum etwas beitragen" (S. 265).

Mit ihren Geschäftspraktiken drückten sie die Gewinne der Produzenten und Vertreiber und die Löhne der produzierenden und verteilenden Arbeiter, zahlen kaum oder keine Steuern, obwohl sie von den Investitionen des Staates in digitale Infrastrukturen und Forschung profitierten, missbrauchten Privatsphären durch intransparente Algorithmen und Missachtung von Datenschutz und gefährdeten insgesamt die demokratischen und sozialen Grundlagen unserer Gesellschaft. Den digitalen Kapitalismus könne man nur aus einer Logik der Unknappheit verstehen, seine Dynamik beziehe er weniger aus der Logik des unternehmerischen Handelns als vielmehr aus den Kalkülen von Rentiers. Gewinne entstünden auf der Basis von Provisionen, Gebühren und Überschussanteilen, nicht aus wertschaffender Produktion, sondern als "Renten aus Marktbesitz":

"Ziel ist nicht die maximale Produktion, sondern die Kapitalisierung eigentlich unknapper Güter. Der entscheidende Effekt dieser Konstellation ist nicht das Absterben des Kapitalismus, sondern die Radikalisierung seiner Grundzüge, insbesondere der sozialen Ungleichheit" (S. 27).

Internet-Monopole seien allgegenwärtig und global, deren Ziel sei nicht primär die fabrikmäßige Herstellung von Waren und deren Verkauf (Ausnahme Apple), sondern die Organisation des Zugangs zu Wissen und Information, sie unterhielten selbst neue Formen von ausbeuterischer Arbeit ("Gig Work") und profitierten von den Konsumenten und Verbrauchern durch deren Aktivitäten auf den digitalen Plattformen ("User Generated Capitalism").

Philipp Staab geht mit seiner sozioökonomischen Tiefenbohrung über Darstellung und Kritik dieser Erscheinungen hinaus und versucht in Anlehnung an Polanyis "Great Transformation", Elemente einer digitalen Kapitalismustheorie zu entwickeln. Dies ist ihm auch vortrefflich gelungen, wenngleich auch seine Postulation vom Ende des Neo-Liberalismus wenig überzeugend ist, da dessen Kernelemente wie massive Zurückdrängung des Staates (nur bei akutem Bedarf wie bei der Finanzkrise gefragt), Ökonomisierung möglichst vieler gesellschaftlicher Bereiche und Beförderung extremer Individualisierung nach wie vor dominant sind. Lediglich sein Postulat eines "freien Marktes" gerät ins Wanken, was aber defacto in der Praxis unterlaufen wurde.

Was bleibt zu tun? Philipp Staab schlägt ein Bündnis von Liberalen und Links-Keynesianern vor:

"So schreit der privatisierte Merkantilismus der Digitalkonzerne... ja geradezu nach einer progressiven Verbindung liberalen und linkskeynesianischen Denkens, da die Liberalen den Markt vor einer privaten Inbesitznahme nur retten könnten, indem sie sich auf die strategische Wirtschaftspolitik der Linken einließen" (S. 293).

Ob eine solche Allianz tatsächlich praktisch-politisch zustande komme, müsse der Kontingenz der Geschichte überlassen bleiben. Dieser Einwand ist berechtigt, da es zurzeit in Europa kaum linksliberale Hoffnungsträger gibt. Realistischer im Hinblick auf die Umsetzung sind die folgenden Vorschläge: Strategisches politisches Denken, das das vom Neoliberalismus völlig verdrehte Verhältnis von Staat und Wirtschaft neu justiert, ambitionierte Regulierungen für das kommerzielle Internet mit Kontrollen für Markt-Zugänge bis zur Entflechtung von Monopolen, wirksame Besteuerung der Leitunternehmen, wirksamer und konsequenter Datenschutz und Transparenzpflicht für proprietäre Algorithmen, Aufbau einer europäischen digitalen Infrastruktur und vor allem eine geostrategische Neusortierung der EU, um den digitalen Kapitalismus wieder in Einklang mit der Demokratie zu bringen, damit sich Europa zwischen den Plattformen aus den USA und China behaupten könne.

Philipp Staab hat eine scharfsinnige, kluge und ambitionierte Analyse des "Plattform-Kapitalismus" geschrieben, die trotz der komplizierten und komplexen Zusammenhänge auch für soziologlogische und ökonomische Laien gut zu lesen und zu verstehen ist. Seine Studie ist historisch und theoretisch fundiert, beispielhaft und faktengesättigt belegt, ein Grundlagenwerk für eine kritische Theorie des Digitalkapitalismus.


Philipp Staab: Digitaler Kapitalismus. Markt und Herrschaft in der Ökonomie der Unknappheit. Suhrkamp Verlag Berlin 2019, 345 Seiten, 18 Euro.

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Quelle:
© 2021 by Klaus Ludwig Helf
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Mai 2021

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