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REZENSION/725: Detlef Hartmann - Krisen Kämpfe Kriege, Band 2 (SB)


Detlef Hartmann


Krisen - Kämpfe - Kriege

Band 2: Innovative Barbarei gegen soziale Revolution - Kapitalismus und Massengewalt im 20. Jahrhundert



Mit dem zweiten Band der als Trilogie angelegten Reihe "Krisen - Kämpfe - Kriege" fügt der Kölner Autor und Aktivist Detlef Hartmann den das Gesamtwerk tragenden Mittelstein in den freischwebenden Bogen sozialrevolutionärer Her- und Hinkünfte ein. Auch wenn Band 3, in dem es um Aufbrüche und Strategien widerständiger sozialer Bewegungen gehen soll, noch nicht erschienen ist, geht sein Inhalt aus der in Band 2 sichtbar gemachten Dynamik eliminatorischer Gewalt und revolutionärer Gegenbewegung folgerichtig hervor. Die Antizipation erforderlichen Widerstands ist der Aufarbeitung historischer Kämpfe und Aufstände notwendigerweise immanent, sonst ließe sich die im Kanon etablierter Historie weitgehend ungeschrieben gebliebene Geschichte revolutionärer Subjektivität wohl kaum in Wort und Schrift fassen.

Die zwanghafte Kausalität einer Geschichtswissenschaft, die die herrschende Deutungsmacht strukturell verstetigt, neigt dazu, die Funktionslogik der Staatsapparate und Kapitalfraktionen zum allgemeinverbindlichen Deutungsmuster zu verabsolutieren. Um die suggestiven Imperative dieser Herrschaftslogik zu unterbrechen, gilt sichtbar zu machen und in den Stand aktiver Gegenmacht zu versetzen, was ansonsten nur als passive Manövriermasse sattsam bekannter Bezichtigungskonstrukte und Wahrheitspostulate in Erscheinung tritt. Mit dementsprechend gebotener Gründlichkeit führt Hartmann eine Vielzahl historischer Arbeiten an, aus denen er nicht nur zitiert, sondern deren jeweilige Relevanz er in einem umfassenden Fußnotenapparat kommentiert und bewertet. Anstatt exemplarische Einzelfälle zu verallgemeinern, geht der Autor den umgekehrten Weg einer Untersuchung und Auswertung geschriebener Geschichte zum Entwurf einer auf der Seite der Unterdrückten und Unterworfenen positionierten Erzählung, die die Erkenntnisgrenzen aggressiver Staatenkonkurrenz und doktrinärer Ideologieproduktion einebnet.

Stand in dem 2015 veröffentlichten Band 1 der Trilogie - "Alan Greenspans endloser 'Tsunami' - Eine Angriffswelle zur Erneuerung kapitalistischer Macht" [1] - die von der Federal Reserve Bank orchestrierte Innovationsoffensive US-amerikanischer IT-Konzerne im Mittelpunkt einer Analyse, in der der Stand kapitalistischer Vergesellschaftung und Inwertsetzung im neuen Jahrhundert bestimmt wurde, so widmet sich der vorliegende Band 2 den konstitutiven Bedingungen des gegen autoritäre Staatlichkeit gerichteten Widerstandes im 20. Jahrhundert. Wie sich im Prozess sogenannter Modernisierung, ihrer Eskalation in zwei epochalen Gewaltausbrüchen und ihrer bis heute anhaltenden Durchsetzung in der Permanenz kolonialistischer, rassistischer und sexistischer Angriffe auf jegliche Form autonomen Eigensinns Herrschaft herausbildet, durchsetzt und qualifiziert, erschließt sich darin, wodurch sie sich in erster Linie in Frage gestellt sieht, auf besonders eindrückliche Weise.

Wenn die Agenturen der kapitalistischen Moderne in ihren jeweiligen Ausprägungen liberaler, realsozialistischer und nationalsozialistischer Staatlichkeit im Vordergrund der Analyse Hartmanns stehen, dann stets vor dem Hintergrund einer Tiefendimension widerständiger Geschichte, die bis in die "moralische Ökonomie" bäuerlicher Gemeinschaften, an deren systematischer Zerschlagung sich frühe sozialrevolutionäre Kämpfe entzündeten, hinein ausgeleuchtet werden.

In ihrem Kern standen: der Grundsatz der Versorgung aller, auch der arbeitsunfähigen Notleidenden; die autonome Selbstorganisation bei der Verteilung des Bodens und anderer Ressourcen nach dem jeweiligen Familienbedarf; die autonome Aufstellung der Regeln für das Zusammenleben; die Duldung von Einkommensunterschieden in nur geringem Maß, verbunden mit größeren Verpflichtungen der Stärkeren gegenüber den Schwächeren; die Herausbildung einer unterschiedlichen Moral nach innen und außen. Von besonderem Gewicht war die Rückbindung an die oft mythisch erinnerten urkommunistischen Verhältnisse in einer zurückliegenden Vorzeit.
(S. 27)

Diese von Hartmann am Beispiel der Unterwerfung russischer Dorfgemeinschaften und BäuerInnen durch die bolschewistische Modernisierungsoffensive geschilderte Form kollektiver Selbstorganisation widersetzt sich kapitalistischer Vergesellschaftung, wie es jede von ursprünglicher Akkumulation betroffene Lebenswirklichkeit tut, die der Durchsetzung von Lohnsklaverei und Staatenkriegen im Wege steht. Kämpfe gegen Enteignung, Vertreibung, Unterwerfung und Ermordung sind keine Erfindung der sogenannten Neuzeit, sondern prägen die Geschichte menschlicher Entwicklung vermutlich seit Beginn zivilisatorischer Aufbrüche, auf jeden Fall aber seit der Herausbildung hierarischer patriarchaler Gesellschaftsordnungen. Die im Fortschrittsmythos der Moderne suggerierte Rückständigkeit früherer Gesellschaften ist in Anbetracht der massenmörderischen Grausamkeiten, die die Weltkriege des 20. Jahrhunderts und die Geschichte des europäischen Kolonialismus prägen, auch deshalb zu hinterfragen, weil die einander verschärfenden Krisen der Gegenwart nationalistische und chauvinistische Kräfte stärken, während die Stimme schwächerer und verletzlicher Menschen zusehends unhörbar gemacht wird.

Wo sich "feindliche Brüder" (S. 15), so Hartmann zur Tätergemeinschaft der großen staatlichen Akteure des 20. Jahrhunderts in Anlehnung an eine von Marx geprägte Metapher, bis auf den letzten Tropfen Blut bekriegen, weil sie einander die Früchte einer Produktivkraftentwicklung neiden, der sie als SachwalterInnen des Systems industrieller Massenproduktion und gesellschaftlichen Massenkonsums verpflichtet sind, türmen sich Berge aus Asche zu einer Höhe auf, die droht, einen neuerlichen Aufstieg des Phönix mit finaler Konsequenz zu ersticken. Bei aller ideologischen Gegensätzlichkeit waren sie sich in der Absicht einig zu verhindern, dass BäuerInnen, ArbeiterInnen und MigrantInnen ihre Angelegenheiten in die eigenen Hände nahmen. So diese sich dem Kommando in Staat, Armee und Fabrik entzogen, trieben die "feindlichen Brüder" sie unabhängig vom politischen Entwurf ihrer Gesellschaftsordnungen zur Räson einer Vergesellschaftung, die als kapitalistisch auszuweisen für die Sowjetunion kaum weniger gilt als für Deutschland unter NS-Herrschaft.

Es waren ursprünglich die Sehnsucht nach Kommunismus, das Beharren auf dem Recht auf Existenz und eine gerechte Welt, in der alle ihr Auskommen haben würden und selbstbestimmt leben könnten, gegen die der Kapitalismus einen umfassenden Innovationsangriff und Krieg entfesselte. Umfassend, denn er zielte auf die Zerstörung der sozialen Verhältnisse, die diese Sehnsucht trugen. Er zielte auf die Vernichtung ihrer Arbeits- und Lebensformen und auf die Liquidierung der Mentalitäten, um sie für den Betrieb einer Gesellschaft der Massenproduktion und des Massenkonsums unter dem Kommando des Kapitals zu reorganisieren. Durch zwei große Krisen nach den Abstürzen jeweils blasengestützter Innovationsoffensiven wurde mit diesem Ziel der Weg in zwei Weltkriege geöffnet. Über deren Gewalt hinaus war das mörderische "Wüten im Fortschritt" durch Dehumanisierung, Massaker , Massenmord, Völkermord das Mittel dieses Innovationsangriffes. Ihre Avantgarden, die ihn betrieben und sich erst in ihm als Herren ihrer Gesellschaften etablierten, nannten das "Modernisierung". Ihr Antrieb waren vorwiegend männliche Energien. Das reiht sie ein in die Jahrtausende alte Kette der Innovationsoffensiven zur Reproduktion männlicher Herrschaft.
(S. 643)

Außerstande, die Geschichte sozialrevolutionären Aufbegehrens auf die Höhe eines wesentlichen Faktors des historischen Prozesses zu heben, weil die Anerkennung ihrer Relevanz die gesellschaftliche Teilhaberschaft der ExpertInnen in Frage stellte, statt dessen mit aller Vehemenz darum bemüht, die Funken sozialen Widerstandes auszutreten, bevor sie zum Flächenbrand entufern und Deutungsmacht erlangen, schmort die Chronik kapitalistischer Vergesellschaftung in den Archiven und Instituten herrschender Geschichtsschreibung im Saft eines Bratens, dessen Nährwert darin besteht, ihn anderen vorzuenthalten, um an der Überlegenheit der eigenen Existenz nicht zweifeln zu müssen. Um so wichtiger, dass Hartmann in seinem Rekurs auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts die Tiefendimension zerstörerischer Modernisierungsprozesse herausarbeitet und damit von vornherein über den zeitgeschichtlichen Ereignishorizont und seine jeweilige ideologische Verortung hinausweist.

So entwickelt der Autor anhand der wissenschaftlichen Betriebsführung und anderer Formen des Human Engineering und Scientific Managements unter anderem am Beispiel des Arbeitswissenschaftlers Frederick Taylor und des Unternehmers Henry Ford eine Kritik des technologischen Angriffes, die sich wie in roter Faden durch seine Publikationen seit Beginn der 1980er Jahre zieht und die in der sich stetig verschärfenden Widerspruchsentfaltung zwischen kapitalistischer Produktivkraftentwicklung und sozialökologischer Destruktion niemals relevanter war als heute und morgen.

Zertrümmerung und Neuzusammensetzung von Verhalten, Zerstörung und Neuschöpfung - "creative destruction" also - machten den strategischen Kern der wissenschaftlichen Betriebsführung zum Paradigma, zur narrativen "Sinnformel", zur Leitvorstellung der Transformation des Klassenkriegs in eine neue Ära.
(S. 73)

Dieser Klassenkrieg nimmt im Zusammenwirken von technologischer Innovation und massenmörderischen Exzessen autoritärer und faschistischer Staatlichkeit jene monströse Gestalt an, die Menschen bis heute fassungslos macht, weil sie sich nicht erklären können, wie sich honorige BürgerInnen in blutrünstige Ungeheuer verwandeln können, um an anderer Stelle wieder ganz normal zu wirken. Die innere Entwicklungslogik genozidaler Gewalt, die Hartmann plausibel macht, entzieht sich denn auch monokausalen Deutungen etwa nach Art einer vulgärmaterialistischen Kapitalismuskritik, die das Raubverhalten des zur Herrschaft über die Natur und alle anderen Tiere berufenen Menschen auf einen atavistischen Bruch des Anspruches auf humanistische Aufklärung und zivilisatorische Anthropozentrik verkürzt.

Unter Bezugnahme auf den Historiker Mark Levene und den Soziologen Zygmunt Baumann macht Hartmann die Produktion genozidaler Gewalt im Rahmen von Modernisierungskonkurrenzen plausibel und enthebt sie damit einer ideologisch motivierten Verortung, ohne den in der Grausamkeit seiner gewalttätigen Durchsetzung herausragenden Charakter der NS-Vernichtungspolitik zu relativieren. Um dem Verhältnis von kapitalistischer Verwertung und kriegerischer Massengewalt, das für das Buch zentral ist, auf den Grund zu gehen, sind die Gewalttaten der sowjetischen Modernisierungspolitik oder US-amerikanischen Hegemonialstrebens nicht weniger bedeutsam als die vernichtenden Weltmachtambitionen des NS-Faschismus. Die ideologische Sprengkraft der Vergleichbarkeit respektive Singularität genozidaler Exzesse bleibt davon insofern unberührt, als es Hartmann nicht um die Erwirtschaftung partikulärer Legitimation geht, sondern darum, die elementare Vernichtungsgewalt kapitalistischer Vergesellschaftung und nationalchauvinistischer Staatlichkeit als zentralen Antagonismus emanzipatorischer und sozialrevolutionärer Befreiung herauszuarbeiten.

Dementsprechend umfassend gerät die Schilderung genozidaler Grausamkeiten insbesondere im Rahmen des Zweiten Weltkrieges. Stalinistische "Säuberungen", die Vernichtung der europäischen JüdInnen oder den im Abwurf zweier Atombomben kulminierenden Bombenkrieg gegen Japan in ihren jeweiligen Eigenarten in den Kontext gesellschaftlicher Modernisierung zu stellen heißt nicht, ihre Monstrosität zu relativieren. Dieser Verdacht mag in Zeiten wieder erstarkender völkischer Gesinnung und angesichts der Konstanten des niemals nicht salonfähig gewesenen deutschen Imperialismus naheliegen, sollte aber die Freiheit linker Diskurse nicht durch Gesinnungsdiktate einschränken, mit denen inzwischen wichtige Teile linksradikaler Geschichte militanter Art final versiegelt und dem Vergessen doktrinärer Sprachlosigkeit überantwortet werden.

Einmal abgesehen davon, daß die subjektive Katastrophe erlittener Gewalt kein verallgemeinerbares Faktum darstellt und der Schmerz finaler Ohnmacht sich jeder Instrumentalisierung entzieht, hat Hartmann nicht das Problem, sich irgendwelcher ideologischen Vorlieben gegenüber rechenschaftspflichtig zu zeigen. Um Spekulationen keinen Raum zu geben, greift er möglichen Einwänden dennoch zuvor.

Wenn im folgenden Überblick seine abstoßenden Facetten (der gegen JapanerInnen gerichtete Rassismus in den USA - A.d.R) als Ausdruck der Dehumanisierung ihres "Subjekts" bis in ihren exterminatorischen Gehalt dargestellt werden, dann bleibt auch hier dringend zu beachten: Versuche der Aufrechnung und des Vergleichs aus der Perspektive der jeweiligen Favoriten bzw. der eigenen Geschichte partizipieren letztlich an ihren bösen Energien. Der kapitalismuskritische Ansatz dieses Buches hat mit ihnen nichts zu tun. Dieser Ansatz operiert auf einem anderen Niveau als dem der feindlichen Brüderschaft, dem letztlich auch das Gerangel über die gegenseitige Bewertung angehört. So richtig es bleibt, dass keiner der massenmörderischen Rassismen demjenigen der Deutschen gleichkommt, so sehr muss betont werden, dass sie alle demselben kriegerischen Zyklus angehören. In ihm steigert sich der Angriff der schöpferischen Zerstörung kapitalistischer Innovation zum Zyklus der schöpferischen Vernichtung im totalen Krieg. In diesem Zyklus war auch der US-amerikanische Rassismus gegenüber den Japaner*innen ein integraler Bestandteil und ein treibendes Moment.
(S. 624 f.)

Die Ergebnisse einer materialistischen Geschichtsforschung für künftige Kämpfe fruchtbar zu machen kann nicht darauf beschränkt bleiben, anhand der jeweils schlimmeren oder böseren Akteure Fortschritte zu postulieren, die in einen weiteren Zyklus genozidaler Gewalt münden könnten. Ohne die radikale Überwindung kapitalistischer Verwertung, des Warencharakters der Arbeit und der Kommodifizierung allen Lebens im Rahmen gesellschaftlicher Naturverhältnisse können neokolonialistische und extraktivistische Strategien, die das Sterben von Millionen Menschen vor allem im Globalen Süden billigend in Kauf nehmen, offensichtlich nicht zum Abschluss gebracht werden.

Ausführlich geht Hartmann auf die besondere Rolle von JüdInnen für die NS-Feindbildproduktion ein und führt dazu diverse Beispiele aus sozial- und geschichtswissenschaftlichen Analysen an, die sich nicht auf die Triebkraft eines Rassemythos oder völkisch-antisemitischer Identitätsproduktion reduzieren lassen, um den genozidalen Angriff des NS-Regimes auf jüdische Menschen zu verstehen. Wichtig erscheint in diesem Zusammenhang, mit der Idee bloßer Rückständigkeit des NS, seiner Verankerung in heidnisch-germanischen Mythen oder anderen Formen vormoderner Selbstvergewisserung aufzuräumen. So gelangt Hartmann unter Verweis auf Hannah Arendt und andere zu dem Ergebnis, dass es sich bei der Produktion einer "arischen" "Rasse" nicht um das Ergebnis einer "Ideologie" handelte, sondern es um "ein Projekt des Social Engineering im Prozess der historischen Formation der Gesellschaft von Massenproduktion und -konsum" ging. "Auch eliminatorischer Antisemitismus wurde eingeübt als integraler Motor der Herstellung eines 'Neuen Deutschland' und des 'Lebensraums' Europa unter der Führung einer im Werden befindlichen 'arischen Rasse'." (S. 506) Dass diese Vernichtungsdoktrin in imperialistischen Kriegen und neokolonialer Ausbeutung, die millionenfachen Hungertod, die systematische Zerstörung der Infrastruktur ganzer Staaten, eine unter anderem durch Wirtschaftssanktionen bedingte soziale Verelendung auf Massenbasis, die ökologische Verödung ganzer Regionen und von Existenznot getriebene Fluchtbewegungen hervorbringen, ein modernes Echo findet, dürfte schwer zu bestreiten sein.

Horkheimers berühmte Warnung, dass vom Nationalsozialismus schweigen solle, wer vom Kapitalismus nicht reden wolle, gilt nach wie vor, wenn man das Verständnis von Ökonomie auf das historische Niveau der Zeit bringt: Wer von der Gewalt der innovativen kapitalistischen Offensive nicht reden will, soll vom NS, einem Strang seiner Verwirklichung, schweigen.
(S. 494)

Besonders schwer zu verdauen für die große Gruppe sich "linksliberal" gerierender MeinungsführerInnen, Funktionseliten und Kulturschaffenden sind die von Hartmann aufgedeckten Widersprüche zwischen Anspruch und Wirklichkeit, die die kriegsökonomische Bewirtschaftung kapitalistisch hochentwickelter Staaten und der diese befeuernden Finanz-, Währungs- und Handelspolitiken hervorbringen. Die Modernisierung der sozialstrukturellen, wissenschaftlichen und industriellen Grundlagen als freiheitlich-demokratisch ausgewiesener Gesellschaften erweist sich in der Brutalität ihrer Durchsetzung allzu häufig immun gegenüber ihren erklärten universalen Werten und Idealen. Wenn Geländegewinne in der imperialistischen Staatenkonkurrenz erzielt werden sollen, sind der inhaltlichen Auslegbarkeit anerkannter Rechts- und Freiheitsideale bis zu ihrer faktischen Widerlegung kaum Grenzen gesetzt.

Angesichts der von Hartmann attestierten Sonderstellung nazistischer Vernichtungslogik schlägt sich die Erkenntnis um so unangenehmer nieder, dass die im Geschäftsbetrieb nationaler Bestandssicherung, schuldengetriebener Klassenherrschaft und währungspolitischen Hegemonialstrebens zu entdeckenden, im vorliegenden Werk umfassend recherchierten und belegten Techniken und Mittel administrativer Verfügungsgewalt weit mehr Gemeinsamkeiten in der Umsetzung durch miteinander verfeindete Staatsprojekte aufweisen, als die Narrative historischer Zäsuren und antagonistischer Legitimationsproduktion ahnen lassen.

Die systematische Ausblendung personeller und administrativer Kontinuitäten insbesondere in der bis in die 70er Jahre hinein nazistisch geprägten BRD und die imperalistische Kriegspolitik von weißen Sklavenhaltern unter Ausschluss nichtweißer und nichtmännlicher Menschen gegründeten, dennoch als "älteste Demokratie der Welt" gefeierten USA durch die jeweils zuständigen Legitimationsapparate und Regierungsbürokratien vernebeln bis heute die Sicht auf die eigene Beteiligung am Bestand einer Welt, die die große Mehrheit der Menschen zu einem Leben in sozialem Elend verurteilt und deren ökologische Zerstörung Programm ist, weil Klassenprivilegien produzierende Produktionsweisen und Eigentumsansprüche nicht grundlegend in Frage gestellt werden sollen. Allein den Reichtum einer kleinen Minderheit, dessen quantitative Dimension sich jeder lebenspraktischen Vergleichbarkeit längst entzogen hat, anzuprangern kann die revolutionäre Notwendigkeit, die im Untergang ganzer Weltregionen resultierende Partizipation an nationalistischer, rassistischer und patriarchaler Herrschaft herauszustellen und zu überwinden, nicht ersetzen.

Zur propagandistischen Unterfütterung markt- und kapitalgenerierter Freiheiten an die staatsautoritären Repressionspraktiken in der DDR und die Grausamkeiten sowjetischer Herrschaftssicherung zu erinnern macht die Sache nicht besser, sondern verwischt die strukturellen und organisatorischen Gemeinsamkeiten der weltweit führenden Modernisierungsregimes um ein weiteres. Gescheiterte revolutionäre Aufbrüche enthalten wertvolle Lektionen für die Zukunft widerständiger Bewegungen, die nicht nur die drohende Wiederholung mehr als einmal gemachter Fehler betrifft. Der Instrumentalisierung der Geschichte realsozialistischer Staaten als Popanz herrschender Legitimationsproduktion entgegenzutreten gelingt mit größter Relevanz für die Bewältigung anstehender Probleme dadurch, dass die Gemeinsamkeiten der herrschaftsstrukturellen und technologischen Innovationsimpulse analysiert und kritisiert werden.

So soll die sozialdarwinistische, gerade in Massengesellschaften zu maximaler Vereinzelung tendierende Überlebenskonkurrenz, von Hobbes bis Hayek zur DNA liberaler Gesellschaftsordnungen erhoben, widerständigen sozialen Bewegungen die Luft zum Atmen nehmen. Dennoch hat die unterstellte Auslöschung der Opposition gegen die Einspeisung des Menschen in Fabrik und Krieg, gegen die Objektivierung und Normierung der Vielfalt subjektiven Lebens, gegen die Zurichtung atomisierter Individuen auf Markt und Arbeit nicht zu dem Ergebnis geführt, dass die Ordnung des Teilens und Herrschens bis in die letzten Winkel noch nicht eroberter Residuen unverfügbaren Lebens vorangetrieben werden konnte.

Ganz im Gegenteil, gerade in den letzten Jahren regt sich weltweiter Widerstand gegen die Imperative einer kapitalistischen Moderne, die, von kalter Effizienzlogik, ehrgeizigen Leistungsparametern und brutalem Innovationsdruck getrieben, in der Zurichtung des Menschen auf maximale Verwertbarkeit ihre äußere Form wie ihren tiefsten Sinn erhält. Die "progressistischen" Eliten, die der Autor auf den Kommandohöhen administrativer Verfügungsgewalt und gesellschaftlicher Modernisierung verortet, sind immer weniger in der Lage, glaubhaft zu machen, dass die anwachsende Existenznot ein Kollateralschaden der von ihnen propagierten kapitalistischen Vergesellschaftung sei.

Besonders aufschlussreich für das Ausloten der Untiefen und Abgründe propagierter Innovationsoffensiven ist die den historisch-analytischen Teil des Buches abschließende Untersuchung des Krisenmanagements der US-Regierungen unter den Präsidenten Herbert Hoover und Franklin D. Roosevelt, das im sozialreformerischen Projekt des New Deals mündete, der bis heute Vorbildfunktion für die KritikerInnen neoliberaler Marktwirtschaft besitzt. Die von Hartmann belegte Nähe der dabei entstandenen, auf die US-amerikanische Bewirtschaftung der Hemisphäre der Amerikas zielenden Währungs- und Handelskonzepte zum Entwurf eines Europas unter deutscher Herrschaft ist nicht minder folgenreich für die Entstehung der westlichen Nachkriegsordnung, als es die Verwurzelung keynesianischer Ausgabenpolitik in den kriegsökonomischen Interessen großer Kapitale ist.

Keynes wusste allerdings selbst, dass die Neigung der Unternehmer*innen, Rüstungsausgaben den zivilen vorzuziehen, im höheren Vertrauen auf die militärische Verwendung zu suchen war. Die militärischen Macht und Gewaltressourcen des MIK (militärisch-industrieller Komplex - A.d.R.) sicherten Kontrolle und Zugriff auf die sozialen und ökonomischen Bedingungen. Das ist auch der entscheidende Grund, warum "Keynesianismus" nur unter den Bedingungen des Kriegs, des heißen, wie auch später des kalten, zu haben war. Die Behauptung, er sei eine Angelegenheit des "Friedens" ist eine bürgerliche Illusion. Im Gegenteil: Keynesianismus ist die finanzielle Seite der kriegsökonomischen fordistischen Innovationsdynamik.
(S. 595 f.)

Eine so gründlich belegte und konsequent auf ihren antagonistischen Gehalt hin entwickelte Kritik an technologischen Innovationsoffensiven und staatlicher Modernisierungslogik, wie sie Detlef Hartmann vorgelegt hat, wird aus naheliegenden Gründen nur wenige FreundInnen unter den SachwalterInnen aktueller Modernisierungsprojekte finden. Ihr Wirken in vermeintlich fortschrittlichen, nicht umsonst an den historischen New Deal als finanz- und ordnungspolitisches Momentum der Qualifizierung administrativer Verfügungsgewalt ankoppelnden Projekten des grünen Kapitalismus, der die Ausbeutung verbliebener Ressourcen gegen das Interesse der indigenen Bevölkerungen und KleinbäuerInnen des Globalen Südens im Namen des Naturschutzes, der Produktion erneuerbarer Energien, der Kommodifizierung ökologischer Dienstleistungen oder der Erzeugung sogenannter Verschmutzungsrechte durchsetzt, ihr Zugriff auf die Schalthebel einer Staatsmacht, die bereits mit dem nächsten kriegsökonomischen Schub kapitalistischer Produktivität liebäugelt, ihr Einsatz für das Projekt der gesellschaftlichen Digitalisierung, das um den Preis der Zerschlagung verbliebener Formen kollektiver und autonomer Selbstorganisation als unverzichtbarer Wachstumsimpuls beworben wird, ihr affirmativer Glaube an die Neutralität von Technologie, der sich gegen jede wirksame Kritik an der mikroelektronischen Produktionsweise und der Durchsetzung auf sie gestützter Innovationsoffensiven richtet, all das macht es den "progressistischen" Eliten auf der Höhe der Zeit unmöglich, mit linksradikalen wie sozialökologischen Formen des sozialen Widerstandes anders umzugehen, als ihnen durch politisches Ko-Management, der Professionalisierung und Akademisierung ihrer AktivistInnen als auch mit blanker Repression die Spitze ihres Veränderungspotentials zu nehmen.

Diese und andere Überlegungen zu den Chancen und Problemen linker Mobilisierung treten bei der Lektüre des zweiten Bandes der Trilogie "Krisen - Kämpfe - Kriege" fast wie von selbst in Erscheinung. Wo das Zusammenwirken diverser globaler Krisen, die 2020 durch die Pandemie mit unerwarteter Aktualität aufgeladen wurden, auch in den Wohlstandszonen Westeuropas und Nordamerikas soziale und politische Fragen von nie gekannter Dringlichkeit aufwirft, werden die LeserInnen in aller Unbescheidenheit dazu ermutigt, bei der Frage, was zu tun sei, nicht auf den Primat emanzipatorischer und sozialrevolutionärer Ziele zu verzichten.


Fußnote:

[1] http://www.schattenblick.de/infopool/buch/sachbuch/busar654.html


19. November 2020



Detlef Hartmann
Krisen - Kämpfe - Krieg
Band 2: Innovative Barbarei gegen soziale Revolution - Kapitalismus und Massengewalt im 20. Jahrhundert
Assoziation A, Hamburg/Berlin 2019
704 Seiten
24,00 Euro
ISBN 978-3-86241-454-3


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