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REZENSION/044: Christoph Hein - Ein Wort allein für Amalia (SB)


Christoph Hein

Ein Wort allein für Amalia

von Christiane Baumann


Diagnose: selbstverschuldete Unmündigkeit. Zu Christoph Heins Buch Ein Wort allein für Amalia

Im vergangenen Jahr erschien Christoph Heins Anekdoten-Band Gegen-Lauschangriff. Dort wird dem "großen Lehrer Lessing" Tribut gezollt, dem man allerdings, bei aller Verehrung seit frühester Jugend, verübelt, "dass er sich in einen Streit mit einem Hauptpastor namens Goeze eingelassen hatte, der ihm Jahre seines Lebens kostete und den er in der damaligen Zeit und Gesellschaft nur verlieren konnte". Beklagt wird, dass er dadurch die Zensurfreiheit als Bibliothekar in Wolfenbüttel verspielte und die Nachwelt um wertvolle Theaterstücke brachte. Dahinter steht die Frage, wie Lessing, der große Aufklärer, der das Vernunftprinzip zur Richtschnur seines Denkens machte, sich in eine aussichtslose Auseinandersetzung mit der lutherischen Orthodoxie begeben konnte. In der Anekdote wird der politische Kopf Lessing, der Kritiker, für den Schriftsteller Hein zum Bezugspunkt, um eigene Positionen im Hier und Heute auszuloten. Nichts Geringeres unternimmt Christoph Hein in seinem jüngsten Prosatext Ein Wort allein für Amalia, der Gotthold Ephraim Lessing nun ins Zentrum rückt. Ausgebreitet werden Lessings letzte Lebenstage im Jahr 1781 sowie dessen schonungslose Lebensbilanz, in der sich nicht zuletzt die Kämpfe des Schriftstellers Hein in und mit unserer heutigen Gesellschaft widerspiegeln.

Im Jahr 1842, Lessing ist mehr als sechzig Jahre tot, bricht Maria Amalia Henneberg geborene König, inzwischen 81-jährig, ihr Schweigen und gibt in einem Brief über die letzten Tage des Dichters Auskunft. Amalia war die einzige Tochter von Lessings Frau Eva König und nach deren schmerzlichem Verlust wohl auch die letzte Liebe des 52-jährigen Dichters, die nicht nur in der braunschweigischen Gesellschaft für Gerüchte sorgte. Briefadressatin ist Margarete Blount, eine Enkelin Alexander Davesons, der Lessing seinen Freund, Lehrer und Beschützer nannte und der an seinem Totenbett saß. Die hochbetagte Amalia, aufgrund ihres Alters über gesellschaftliche Konventionen erhaben, will nun der "Wahrheit" (10) Genüge tun. Die Ich-Erzählerin erstattet "Bericht" (11) und stützt sich dabei auf ihr Tagebuch, um letztlich die "wahrhaftige Nachricht vom Tod" Lessings der Adressatin "zu gutem Gebrauch" (81-82) zur Verfügung zu stellen.

Hein wählt die im 18. Jahrhundert beliebte Form des Briefes, der hier allerdings nicht als subjektiver Herzenserguss, sondern als Chronik erscheint, für die die Schreiberin zu "bürgen" (81) bereit ist. Das Erlebte wird nicht kommentiert, sondern verbleibt weitgehend in der Perspektive der 20-jährigen Amalia. Die erzählerische Anlage erweckt somit den Eindruck des Augenzeugenberichts. Die scheinbar authentischen Vorgänge sind jedoch Teil eines fiktiven Briefes. Die Erzählkonstruktion, die den fingierten Brief als authentischen Bericht erscheinen lässt, ist raffiniert und legitimiert den Anspruch auf Wahrhaftigkeit, an der es in der geschichtlichen Überlieferung, die zur "Erfindung" (81) erklärt wird, mangelt. Amalia rechnet ab mit scheinbar wohlmeinenden Freunden, unbedarften jungen Leuten und Sensationsjournalisten, "Schreiber(n) von Tagesanzeigern, denen nichts an der Wahrheit und alles an einer auffälligen und verblüffenden Nachricht lag" (8). Die Beschreibung der Vorgänge wirkt so aktuell wie die erzählerische Anlage mit ihrem Bemühen um Objektivierung Lessings Abrechnung mit seinem höfischen Dasein und einer sozialen Wirklichkeit, die ihm eine Existenz als freier Schriftsteller unmöglich machte, über den Einzelfall hinaus auf die Ebene des allgemein Verbindlichen und Heutigen hebt.

Amalias Chronik und die dokumentierten Gespräche mit Lessing offenbaren die ganze Erbärmlichkeit der Verhältnisse, in denen sich der Dichter behaupten musste. Da ist die Borniertheit des Braunschweiger Hofes, der die geistige Größe Lessings nicht zu erfassen vermochte. Da ist das menschenverachtende Handeln des Braunschweiger Herzogs, der Lessing jahrelang die zugesicherte Gehaltszulage verweigerte, die dieser für die ersehnte Eheschließung mit Eva König benötigte. Demütigungen, Erniedrigungen, Schulden - das ist die Bilanz eines "gelehrten Mannes", an dem, wie Heins Lessing konstatiert, "keinem Staatswesen und keinem Hofe [...] gelegen" (45) sei, womit er wieder über die eigene Biographie hinausweist. Wir begegnen in der Geschichte einem lebensmüden Lessing, der der Arbeit "überdrüssig" ist und "keine Kanzel" (65) mehr will. Er ist die "Spitzfindigkeiten der Theologie und Philosophie" (31) ebenso leid wie er der zeitgenössischen Literatur und Poesie nichts mehr abgewinnen kann. An der Schwelle vom Leben zum Tod sieht sich Lessing als Künstler gescheitert: "Der Bibliothekar opferte den Schriftsteller" (36), urteilt er nüchtern. Der "Derwisch" soll nun sein letztes Werk, sein literarisches Testament werden.

Der Derwisch, ein mohammedanischer Bettelmönch, steht für Klugheit und Erleuchtung. Er wird in Heins Geschichte zum Symbol für das Nichtgelebte und Uneingelöste. Heins Lessing denkt sich sein letztes Werk, das er im Kopf bereits fertig hat, das aber ungeschrieben bleibt, "wild und barbarisch" als "afrikanisches Stück", mit dem er die Barrieren des "Anstands, der Bedenklichkeiten, der notwendigen Vorsicht" (33) durchbrechen will. Kompromisslos soll dieses Werk sein. Und während Gott und die Welt über das Verhältnis Lessings zu Amalia spekulieren, empfiehlt der Dichter dem geliebten Mädchen die Philosophie Spinozas als "Erdbeben" und als "das Einzige, das lohnt" (67). Lessing entkommt der höfischen Enge im geistigen Höhenflug. Er fordert, "Spinoza wirklich zu lesen, ihn zu Ende zu denken, ihn wahrhaft auszuhalten" (35). Bekanntlich lösten die 1785 posthum von Friedrich Heinrich Jacobi veröffentlichten Gespräche mit Lessing, die diesen als Anhänger Spinozas zeigten, heftige Kontroversen aus. Spinozas Lehre, die Gott als Teil der Menschenwelt betrachtete, als eine in ihr wirkende Gesetzmäßigkeit, die Fortschritte auf dem Weg zu Humanität und Sittlichkeit bewirke, war revolutionär. Indem Lessing den Menschen als Produkt geschichtlicher Entwicklung sah, dachte er nicht mehr in theologischen, sondern in philosophischen Kategorien. Er gelangte zu einem dialektischen Denken, das Erklärungen bot für die materiellen Prozesse in Natur und Geschichte und das die Religion zu einer geschichtlichen und damit veränderbaren Erscheinung werden ließ. Die Welt war nicht mehr etwas von Gott Gegebenes, Unverrückbares.

Vielleicht war Spinoza ein Derwisch (68), sinniert Lessing, der es zwar im Geist, aber als Hofrat und Bibliothekar nicht im Leben war, denn er fügte sich wider besseres Wissen in die Demütigungen, Kränkungen und Erniedrigungen der Macht: "Nicht der Herr macht den Knecht, sondern der Knecht den Herrn" (77), lässt Hein seinen Lessing selbstkritisch konstatieren. Verhandelt wird die Frage der "selbstverschuldeten Unmündigkeit", die Kant dann gegeben sah, wenn nicht Mangel an Verstand, sondern der Entschließung und des Mutes vorlagen. "Wer also ist der Schelm, der mich so sehr um mein Leben betrog?" (77), fragt Heins Lessing mit dem Maßstab der Aufklärung, dem aus seiner Sicht nur die Derwische, die Sonderlinge und Ver-rückten, mit denen sich der Dichter zeitlebens gern umgab und zu denen auch Alexander Daveson gehörte, gerecht zu werden imstande sind. Ihnen gelingt es, "die Bequemlichkeit, unmündig zu sein", zu überwinden. Sie nutzen "allein den eigenen Verstand, die eigene Erfahrung" (76) und folgen den Prinzipien der Aufklärung, deren Einlösung damit nur außerhalb der Gesellschaft, in einem "a-sozialen" Leben möglich ist. Ein "aufgeklärtes" Leben zu führen, hieße: "Ein anderes Leben suchen. Aus allen Verhältnissen heraus. Aber alles hält uns darinnen." (66) In Heins Ein Wort allein für Amalia gelingt die Auflösung des Widerspruchs von Ideal und Wirklichkeit, von eigenem Anspruch und Erfüllung, nur noch in der Kunst, auf deren gesellschaftlicher Bestimmung der Dichter beharrt. Wenn schon kein Derwisch, dann "Predigten eines Derwischs" (67), denn "alle guten Menschen gehen einander an", erklärt Heins Lessing trotzig, wohlwissend: "alle Menschen gehen einander an die Gurgel" (67). Es hat sich seit Lessings Zeiten nicht viel verändert in der Welt.

Empfand Lessing mehr als nur väterliche Gefühle für die dreißig Jahre jüngere Amalia? Wollte er sie tatsächlich heiraten? Wusste oder ahnte sie es? Hein spielt meisterhaft mit dieser skandalumwitterten Liebesgeschichte. Am Ende steht "ein Wort allein für Amalia", das in verschiedenen Fassungen überliefert ist. Wen Heins Lösung interessiert, der sollte das unterhaltsame wie anspruchsvolle Insel- Bändchen, das ins Herz unserer Zeit zielt, lesen. Es ist zudem von Rotraud Susanne Berner ungewöhnlich und in der Reduktion auf Dinge des Alltäglichen kongenial zur Erzählweise Heins gestaltet. Der Leser begegnet ihren Illustrationen bereits in Form von kleinen Piktogrammen auf dem Einband, der damit die Verbindung von Text und Gestaltung unterstreicht.

Hein, Christoph:
Ein Wort allein für Amalia
Mit Illustrationen von Rotraut Susanne Berner
Berlin: Insel Verlag 2020
Insel-Bücherei Nr. 1479
ISBN 978-3-458-19479-8

17. August 2020


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