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MEMORIAL/228: Aldo Moro, der Allende Italiens (Gerhard Feldbauer)


Der Allende Italiens

Wie der christdemokratische Parteiführer Italiens, Aldo Moro, am 9. Mai 1978 Opfer eines von der CIA mit italienischen Komplizen inszenierten Mordkomplotts wurde

von Gerhard Feldbauer, 14. Mai 2021



Foto: dati.camera.it, CC BY 4.0 [https://creativecommons.org/licenses/by/4.0], via Wikimedia Commons

Aldo Moro
Foto: dati.camera.it, CC BY 4.0 [https://creativecommons.org/licenses/by/4.0], via Wikimedia Commons

An Aldo Moros Todestag am 5. Mai erinnerte das antifaschistische Italien auch dieses Jahr wieder. Der 55 Tage zuvor Entführte wurde Opfer eines von der CIA und italienischen Komplizen inszenierten Mordkomplotts, in dem die linksextremen Brigate Rosse durch eingeschleuste Agenten zum Werkzeug manipuliert wurden. [1] Der Anschlag war Höhepunkt der von der CIA inszenierten "Spannungsstrategie", der Anni di piombe (bleiernen Jahre), die mit allen Mitteln eine Regierung mit den Kommunisten verhindern wollte. Staatspräsident Sergio Mattarella gedachte der über 400 Toten dieses Terrors und erinnerte in der römischen La Repubblica daran, dass diese Anni di piombo die "institutionelle und soziale Stabilität unseres Landes" bedrohten, und forderte, die "vollständige Wahrheit" darüber ans Licht zu bringen. Unter den Opfern befand sich auch sein Bruder Piersanti Mattarella, ein Anhänger Moros, der wie dieser als Vorsitzender der DC auf Sizilien mit den Kommunisten eine Regionalregierung bilden wollte und deshalb am 8. Januar 1980 von Mafiosi und Faschisten umgebracht wurde.


Foto: Comune di Catenanuova, Public domain, via Wikimedia Commons

Piersanti Mattarella, Präsident von Sizilien (1978 bis 1980)
Foto: Comune di Catenanuova, Public domain, via Wikimedia Commons

Während ich mit meiner Frau Irene, die als Foto-Reporterin arbeitete, für die Nachrichtenagentur "ADN" der DDR von 1973 bis 1979 in Rom tätig war, lernte ich Aldo Moro bei zahlreichen offiziellen Anlässen wie Staatsempfängen oder als Redner in Parlamentsdebatten persönlich kennen. Ich verhehle nicht, dass es für mich menschlich sehr ergreifend war, miterleben zu müssen, wie er seine Treue zu demokratischen Traditionen und sein Bekenntnis zur Zusammenarbeit mit den Kommunisten mit dem Leben bezahlte. Ihm habe ich u. a. die 2003 geschriebene Schrift "Aldo Moro und das Bündnis von Christdemokraten und Kommunisten im Italien der 70er Jahre" [2] gewidmet. 2008, in einer Neuauflage 2011, ist Aldo Moro die Hauptfigur meiner Kriminalerzählung nach Tatsachen "Warum Aldo Moro sterben musste. Die Recherchen des Commissario Pallotta", deren fiktive handelnde Personen ebenfalls meinem Freundes- und Bekanntenkreis in Rom entnommen sind. [3]

Moro wurde 1916 in der Kleinstadt Maglie im südlichen Apulien geboren und kam aus den einfachen Verhältnissen einer ländlichen Pädagogenfamilie. Der Vater war Schulinspektor, die Mutter Elementarschullehrerin. Der sehr begabte Schüler studierte Jura an der Universität von Bari, an der er anschließend promovierte, sich habilitierte und später eine Professur für Strafrecht innehatte. Seit 1943 gehörte er der DC an. In Moros Bewusstsein war das einheitliche nationale Handeln der Resistenza gegen das Besatzungsregime Hitlerdeutschlands tief verwurzelt. Im April 1944 gipfelte das in der Bildung einer antifaschistischen Einheitsregierung, die von den Kommunisten und Sozialisten bis zu großbürgerlichen Kreisen und Monarchisten reichte. Davon ausgehend ging es Moro während seiner Regierungszeit und als DC-Vorsitzender darum, seiner Partei und damit dem kapitalistischen Gesellschaftssystem, das sie verkörperte, eine stabile Regierungsmehrheit zu verschaffen. Das hielt er nur durch die Einbeziehung zunächst der Sozialisten und später der Kommunisten für möglich.


Haus mit Gedenktafel und Statue - Foto: Federicopiccioni88 at Italian Wikipedia, Public domain, via Wikimedia Commons

Das Geburtshaus Moros in Maglie
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Moro reifte früh zu einem außerordentlich fähigen Politiker mit Realitätssinn für die Probleme des eigenen Landes wie auch internationaler Fragen heran. Er galt als volksverbunden und war, geradezu ein Novum in der italienischen Politik, niemals in einen Bestechungsskandal verwickelt. 1946 in die Verfassungsgebende Versammlung gewählt, gehörte er danach bis zu seinem Tod ununterbrochen der Abgeordnetenkammer an. Er stand fünfmal der Regierung vor, wurde 1948 das erste Mal zum Staatssekretär ernannt, danach mehrmals zum Außenminister und Chef anderer Kabinettsressorts. Für die 1979 anstehenden Präsidentenwahlen galt er als aussichtsreichster Kandidat seiner Partei.

Als Gegner der NATO blieb er am 27. März 1949 demonstrativ der Parlamentssitzung fern, die den Beitritt zu dem Pakt beschloss. Alcide de Gasperi schloss ihn deswegen aus dem Kabinett aus. Viele Politiker hielten seine Karriere für beendet. Die DC bezahlte jedoch bei den Parlamentswahlen 1953 den pro-atlantischen Kurs de Gasperis mit einer schweren Niederlage. Von 48,5 Prozent (1948) sackte sie auf 40,1 ab. Während de Gasperi abdankte, kehrte Moro in die Politik zurück und 1955 in die Regierung.


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Alcide de Gaspari, erster DC-Vorsitzender und Ministerpräsident Italiens von 1945 bis 1953
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Als Moro 1963 den Auftrag zur Regierungsbildung erhielt, setzte er seine erste Apertura à Sinistra (Öffnung nach links) durch und nahm die zusammen mit den Kommunisten 1947 aus der Regierung vertriebenen Sozialisten wieder in das Kabinett auf. Damit sicherte er seiner Regierung die Parlamentsmehrheit. Die Parlamentswahlen 1976 stürzten die DC jedoch erneut in die Krise. Sie selbst konnte zwar ihre Stimmen halten, aber die Sozialisten, die grundlegende sozialistische Positionen aufgaben, was die Wähler mit Stimmenentzug bestraften, erreichten nur noch 10,2 Prozent (bei Regierungseintritt 1963 waren es 13,8 gewesen). Die Stimmen der IKP stiegen dagegen sprunghaft um 7,3 auf 34,4 Prozent an. Als DC-Vorsitzender griff Moro den Vorschlag von deren Generalsekretär Enrico Berlinguer auf, nun die Kommunisten in die Regierungszusammenarbeit einzubeziehen. Gegen die von 12,6 Millionen Italienern gewählte IKP konnte das Land, so Moros Meinung, nicht mehr regiert werden. Das von ihm mit Berlinguer über die Regierungszusammenarbeit geschlossene Abkommen ging als Compromesso storico in die Geschichte ein. [4]

Moro ging von der kapitalistischen Gesellschaftsordnung als Basis der Regierungszusammenarbeit aus, trat jedoch für soziale und ökonomische Reformen ein. In seinen Aufzeichnungen im sogenannten Gefängnis der Roten Brigaden, die der westdeutsche Publizist Gino Doni in seinem Buch "Mein Blut komme über Euch. Moro oder die Staatsräson" (München 1978) wiedergab, ließ er ernste Zweifel an der Lebensfähigkeit des von der DC verwalteten kapitalistischen Systems erkennen, wenn er festhielt, "das Regime korrumpiert sich mehr und mehr und frisst sich selbst auf", während er gleichzeitig den Kommunisten den Willen nach "Klarheit und Sauberkeit" bestätigte, der "nicht mehr durch die Democrazia Cristiana blockiert werden" könne.


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Enrico Berlinguer, Generalsekretär der Kommunistischen Partei Italiens von 1972 bis 1984 - Aufnahme vom 1. Januar 1970
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In der Außenpolitik trat Moro dafür ein, Blockkonfrontation und internationale Spannungen abzubauen, plädierte für Rüstungsbegrenzung und friedliche Koexistenz. Deshalb favorisierte er die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit der UdSSR, wie sie Giovanni Agnelli [5] mit seinem FIAT-Konzern betrieb, und trat für eine politische Annäherung an Moskau ein. In der Zusammenarbeit mit den arabischen Staaten sah er einen traditionellen Schwerpunkt der italienischen Außenpolitik, was für ihn vernünftige Beziehungen zu den Palästinensern einschloss, nicht zuletzt, um auf dieser Basis zur Lösung des Nahostproblems beizutragen. Das waren aber meistens Politikfelder, auf denen die Konfrontation mit den USA unausweichlich blieb. Wie in der Außen- und Außenwirtschaftspolitik war Moro auch in der Innenpolitik ein entschiedener Gegner der massiven Einmischung Washingtons in die italienischen Angelegenheiten und trat für die Wiederherstellung der nach 1945 verlorengegangenen nationalen Souveränität ein. Eine der gemeinsamen Interessenlinien mit Berlinguer war, die italienischen Entscheidungen in der IKP unabhängig von Moskau zu treffen und die in der DC und damit in der italienischen Politik unabhängig von Washington.

In Journalistenkreisen gab es Diskussionen, ob Moro eine Finnlandisierung Italiens vorgeschwebt, er Moskau den Austritt Polens aus dem Warschauer Pakt vorgeschlagen habe und als Gegenleistung Italiens Austritt aus der NATO bewerkstelligen wollte. Diese Fragen wurden über zwei Jahrzehnte später auf einer Konferenz der Associazione Ricreativa Culturale Italiana (ARCI) zu "Politik und Terrorismus in Italien" im September 2002 erörtert, an welcher ich zusammen mit Professor Siegfried Prokop teilnahm. Während Prokop zur RAF in der BRD referierte, hielt ich das Hauptreferat zur Rolle der CIA bei der Manipulierung der Roten Brigaden. [6]

Seitens der IKP sah Moro, ausgehend von deren ideologischen Wandlungen und der Abkehr von Moskau, keine Gefahr einer "kommunistischen Machtergreifung" oder einer kommunistisch dominierten Linksregierung. Gleichzeitig hoffte er, dass ähnlich wie vorher bei der ISP, ihre in den Massen wurzelnde Überlegenheit abnehmen und sich das in einem Wählerrückgang niederschlagen werde, was seiner Partei zu Gute kommen sollte. In einem Interview für die römische Tageszeitung La Repubblica verdeutlichte er am 18. Februar 1978 indessen, das Ziel könne nicht darin bestehen, die IKP als politischen Faktor auszuschalten und wies damit Spekulationen auch im linken Flügel seiner eigenen Partei zurück. Mit großer Rationalität plädierte Moro dafür, die IKP solle ihre "ideologische Herkunft" nicht zu sehr verleugnen, womit er nachgerade vor einer zu starken Sozialdemokratisierung warnte. [7] Er ging davon aus, dass zwei Dinge geschehen könnten: "Ein beträchtlicher Teil ihrer Anhänger würde sie verlassen oder sie würde - mehr oder weniger - ihre jetzige Stärke behalten. Im ersten Fall wäre sie nicht eine wirkliche Alternative zur DC, im zweiten Fall würde sie auch weiterhin trotz aller ideologischen Revisionen, nicht allein ein westeuropäisches NATO-Land regieren können." Aber mit der DC und anderen Parteien an der Regierung hielt Moro das "für möglich, sogar notwendig." Er räumte offen ein, dass die DC allein das Land "nicht mehr halten" könne und betonte: "Wir müssen dafür sorgen, dass sich die IKP während dieses langsamen Annäherungsmarsches nicht zu sehr schwächt, aber vor allem müssen wir uns darum kümmern, dass die DC nicht zu schwach wird". Das der Repubblica vorab gewährte Interview sollte nach der Regierungsbildung veröffentlicht werden. Nach der Entführung und folgenden Ermordung Moros verzichtete die Zeitung zunächst auf eine Veröffentlichung, brachte es erst am 14. Oktober 1978.


Ford an Schreibtisch sitzend, Halbporträt - Foto: University of Michigan, Public domain, via Wikimedia Commons

US-Präsident Gerald Ford am 8. September 1974 im Oval Office
Foto: University of Michigan, Public domain, via Wikimedia Commons

Schon die Wiederaufnahme der Sozialisten in die Regierung war in den USA auf Widerstand gestoßen. Aber die unter Bettino Craxi einsetzende scharfe Rechtsentwicklung in der Partei hatte in Washington zur Beruhigung geführt. Nicht so Moros zweite Apertura à Sinistra, die auf erbitterten Widerstand stieß. Der DC-Vorsitzende war nach seinen öffentlichen Erklärungen zur Zusammenarbeit mit den Kommunisten erbitterten Angriffen ausgesetzt, die immer öfter in einer regelrechten Mordhetze gipfelten. Dabei wandte Washington Methoden an, die es sonst nur gegenüber den Ländern in seinem südamerikanischen Hinterhof praktizierte. Als Moro sich 1974 als Außenminister in Begleitung von Staatspräsident Giovanni Leone in Washington befand, wurde er massiv unter Druck gesetzt. Mit der offenen Drohung, Italien in ein zweites Chile zu verwandeln, arbeiteten die Amerikaner regelrecht der faschistischen Strategie von einer "chilenischen Lösung für Italien" in die Hände.

Präsident Gerald Ford rechtfertigte zu Beginn des italienischen Staatsbesuchs auf einer Pressekonferenz die Hilfe der USA beim Militärputsch Pinochets, der 1973 die frei gewählte Regierung des Sozialisten Allende stürzte. Das errichtete faschistische Regime wurde von den Neofaschisten in Rom als Vorbild gefeiert. "Wir haben dort getan, was die Vereinigten Staaten tun, um ihre Interessen im Ausland zu verteidigen", warnte Ford. Wie die IKP-Zeitung Unita am 28. September 1974 aus Washington berichtete, wurde die italienische Delegation danach in einer jeglicher diplomatischen Etikette hohnsprechenden Weise mit der Antwort Außenminister Kissingers auf Anfragen im US-Kongress zur US-Einmischung in Chile konfrontiert, der sagte: "Sie machen uns Vorwürfe wegen Chile. Sie würden uns noch härtere Vorwürfe machen, wenn wir nichts tun würden, um die Beteiligung der Kommunisten an der Machtausübung in Italien oder anderen Ländern Westeuropas zu verhindern." Moro reiste nach diesem Affront gegen seine Politik vorzeitig aus Washington ab. Der zum rechten Flügel der DC gehörende Leone, der 1972 nur dank der Stimmen der Faschisten vom Parlament zum Staatspräsidenten gewählt worden war, nahm die Demütigung ohne jeden Protest hin.


Foto: Library of Congress, Public domain, via Wikimedia Commons

US-Präsident Gerald Ford (l.) und Henry Kissinger (r.) am 16. August 1974 vor dem Weißen Haus
Foto: Library of Congress, Public domain, via Wikimedia Commons

Moros Frau Eleonora sagte später vor der Parlamentskommission zur Untersuchung des Mordes aus, dass ihrem Mann während des Staatsbesuchs in Washington massiv Konsequenzen angedroht worden waren. Wenn er seine Zusammenarbeit mit den Kommunisten nicht aufgebe, werde er es "teuer bezahlen". Ein hoher Beamter habe in Anspielung auf die Ermordung John F. Kennedys und seine Witwe gedroht, dass es sonst "eine Jaqueline in der Zukunft (Italiens) geben" werde. [8] Ihr Mann habe das so ernst genommen, dass er nach der Rückkehr nach Rom sein Testament verfasste.

In massiver Form forderte der US-Botschafter in Rom, John Volpe, [9] im Oktober 1975, keinerlei Mitarbeit der Kommunisten an einer Regierung zuzulassen, da das "den westlichen demokratischen Traditionen fremd" sei und im "grundsätzlichen Widerspruch zur NATO" stünde. Volpes Auftreten stieß auf starke Proteste in den Medien. Selbst die Turiner Stampa verurteilte am 28. Oktober solcherart "offene Einmischung in die inneren Angelegenheiten" und fragte, ob man "Italien vielleicht für ein Protektorat der USA halte, in dem es durchaus erlaubt sei, zu begünstigen und zu intervenieren oder Regierungen zu stürzen". Das Brisante daran war, dass sich zur gleichen Zeit der Erklärung Volpes eine Delegation der faschistischen MSI-Partei mit ihrem Führer Giorgio Almirante [10] in den USA befand und mit führenden Politikern des Weißen Hauses laut Presse-Berichten über "die italienisch-amerikanischen Beziehungen" beriet.


Halbporträt - Foto: Marion S. Trikosko, Public domain, via Wikimedia Commons

Bezeichnete Moro als den "Allende Italiens" - Henry Kissinger, Nationaler Sicherheitsberater der USA (1969-1975) und US-Außenminister (1973-1977)
Foto: Marion S. Trikosko, Public domain, via Wikimedia Commons

Es ergingen in den folgenden Jahren immer wieder Drohungen, die Moro und Rom überhaupt Washington gefügig machen sollten. Außenminister Kissinger kündigte zur Verhinderung einer Regierungsbeteiligung der IKP an, dass es Aufgabe der CIA sei, "Realitäten zu schaffen". Der frühere Vizedirektor der Agency und Leiter des zum Geheimdienst gehörenden Center of Strategic and International Studies (CSIS), Ray Cline, versicherte gegenüber der New York Times umgehend, "dass die verwirrende Situation in Italien durch die Geheimaktivitäten der CIA gelöst werden wird." Eine Tagung des CSIS, die sich im April 1976 mit der Lage in Italien befasste, schlussfolgerte, dass es höchste Zeit sei, "entschiedener in Italien einzugreifen", um zu verhindern, dass das Land über den Eintritt der Kommunisten in die Regierung den Weg "der Neutralität" zwischen den Blöcken einschlage und dann "die NATO nichts mehr zu sagen habe" und die "sechste amerikanische Flotte im Mittelmeer ihre Positionen verlieren würde." In dem Center arbeiteten neben Kissinger Leute wie der spätere Präsident der USA Ronald Reagan, General Alexander Haig und der langjährige CIA-Direktor William Colby, Letzterer bekannt als Mitorganisator des Putsches gegen Allende.

Dieser Linie entsprachen Kissingers Äußerungen über Aldo Moro als "Allende Italiens", der das Land "in kommunistische Abhängigkeit" steuere, und "viel gefährlicher als Castro" sei. Kissinger befürchtete, ein demokratischer Wahlsieg Moros könnte "ein folgenschweres Beispiel" abgeben. Diese Sicht auf die Entwicklung in Italien war letzten Endes von einer panischen Angst vor einem Kräftemessen mit den Linken, vor allem den Kommunisten, das nach den Spielregeln der parlamentarischen Demokratie stattfinden würde, geprägt. Diese Furcht führte dazu, dass in der Auseinandersetzung mit dem Reformkonzept Moros fast ausschließlich auf Gewalt gesetzt und schließlich vor Mord und Terror nicht zurückgeschreckt wurde.


Allende von vielen Menschen umringt - Foto: Brazilian National Archives, Public domain, via Wikimedia Commons

Salvadore Allende, erster sozialistischer Präsident Chiles, im Januar 1972
Foto: Brazilian National Archives, Public domain, via Wikimedia Commons

Wie die weitere Entwicklung zeigte, lag dem eine Fehleinschätzung zugrunde. Denn trotz der Niederlage des Historischen Kompromisses und dem Verschwinden des "Eurokommunismus" von der politischen Bühne gewann der Sozialdemokratismus in der IKP an Boden und führte sogar zum Verschwinden der Partei. [11] Auch wenn das damals in dieser Konsequenz auf keiner Seite für möglich gehalten wurde, entsprach es der Logik des Kalten Krieges und der Blockkonfrontation. Die IKP als Regierungspartei anzuerkennen hätte nahezu zwangsläufig Zweifel am "Feindbild" des Kommunismus hervorgerufen und auch Auswirkungen auf Frankreich oder Spanien gehabt. So gesehen fiel die Konzeption Berlinguers auch und wohl vor allem dem Kalten Krieg zum Opfer. Es gab jedoch auch in Washington einige, wenn auch wenige Politiker, die weiter sahen. Unter ihnen befand sich der spätere Sicherheitsberater des Präsidenten und Theoretiker des "Roll back" des Sozialismus durch die Strategie der "Umarmung", Zbigniew Brzezinski. In der International Herald Tribune vom 5. November 1976 äußerte er, eine amerikanische Regierung könnte zwar nicht die Teilnahme von Kommunisten an westeuropäischen Regierungen befürworten, aber es sei absolut lächerlich, "Gesprächen mit Breshnew zuzustimmen, sie aber Berlinguer zu verweigern". Noch deutlicher vertrat einige Zeit danach der frühere Mitarbeiter des Londoner Instituts für Strategische Studien Gregory Treverton diesen Standpunkt. Im Zürcher Tagesanzeiger wandte er sich am 19. November 1977 gegen Kissingers apokalyptische Warnungen vor einer Regierungsbeteiligung der Kommunisten in Westeuropa und forderte eine "Differenzierung dieser Bewegung nach ihren tatsächlichen ideologischen Ausrichtungen." Linksregierungen in diesen Ländern müssten "nicht notwendigerweise zu einer Krise der NATO führen, sofern sie loyal sind gegenüber der atlantischen Allianz". Treverton plädierte für "Flexibilität gegenüber künftigen Entwicklungen" und sprach sich für ein Ende "der CIA-Manipulationen" aus. Aber solche Leute blieben Rufer in der Wüste.


Porträt - Foto: Kightlinger, Jack E., Public domain, via Wikimedia Commons

US-Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski am 14. März 1977
Foto: Kightlinger, Jack E., Public domain, via Wikimedia Commons

Den USA ging es nicht nur um die Sicherung der italienischen NATO-Mitgliedschaft und um die Südflanke des Paktes, sondern vordergründig auch darum, das Land unter der während des Zweiten Weltkrieges auf der Grundlage ihres Besatzungsregimes begründeten Vorherrschaft zu halten. Sie schalteten dazu von Anfang an die Geheimdienste ein, finanzierten rechte und faschistische Kräfte, bestachen Parteien, Politiker, Gewerkschaftsführer und Massenmedien. [12] Eine aktive Rolle spielte das State Department. Die Herrschaft der Botschafter in einem nicht völlig souveränen Land war offensichtlich kein Privileg, das die sowjetischen Missionschefs beispielsweise in der DDR ausübten. In seiner Nr. 614/1978 schrieb das Nachrichtenmagazin Panorama, Washingtons Botschafter führten sich wie "Statthalter in Rom" auf. James Dunn, von 1945 bis 1952 Missionschef, habe dieses Regime begründet, indem er "alle politischen, wirtschaftlichen und militärischen Druckmittel nutzte, um die USA-Ziele durchzusetzen". Die Verbündeten standen ohne Widerspruch zum "großen Bruder" in Washington. Als die IKP 1976 die erste DC-Regierung tolerierte, beschlossen die Regierungschefs der G 7-Staaten hinter dem Rücken der Italiener, Rom im Falle einer kommunistischen Regierungsbeteiligung sämtliche Kredite zu sperren. Bundeskanzler Helmut Schmidt unterstützte die US-Forderung am nachdrücklichsten. Strauß malte in einem Gespräch mit dem "Spiegel" vom 29. November 1976 drohend das Gespenst "der Volksfront aus Italien und Frankreich" an die Wand.


Schmidt an Schreibtisch sitzend - Foto: Bundesarchiv, B 145 Bild-F048808-0033 / Wienke, Ulrich / CC-BY-SA 3.0 DE [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en], via Wikimedia Commons

Bundeskanzler Helmut Schmidt am 7. Juli 1976 in seinem Arbeitszimmer im Bonner Kanzleramt
Foto: Bundesarchiv, B 145 Bild-F048808-0033 / Wienke, Ulrich / CC-BY-SA 3.0 DE [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en], via Wikimedia Commons

Beginnend mit der Entführung am 18. März 1978 und 55 Tage später der Ermordung Moros wurden diese Szenarien in die Tat umgesetzt. Bereits zwei Tage nach dem Überfall, enthüllte die Repubblica, dass die fünf Männer der Eskorte Moros von einem CIA-Spezialisten erschossen wurden. Der Kommandeur der geheimen NATO-Truppe "Gladio", General Gerardo Serravalle, bestätigte 1990 nicht nur das, sondern enthüllte, dass "Gladio"-Einheiten an der Umsetzung des Komplotts beteiligt waren, Moro von "Gladio" zeitweise auf einem Stützpunkt bei Rom versteckt worden war. [13] Am 23. Oktober 2007 erklärte der damalige Stellvertreter Moros, Giovanni Galloni, wie Medien berichteten, dass "die USA wussten, wo Aldo Moro gefangen gehalten wurde", und dass fünf Mitglieder der BR bei seiner Entführung "nur die Kulisse bildeten".


Porträt - Foto: dati.camera.it, CC BY 4.0 [https://creativecommons.org/licenses/by/4.0], via Wikimedia Commons

Giovanni Galloni, 2007
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Zu den ausführlichsten Quellen gehören die Publikationen des Mitglieds der Parlamentskommission zur Untersuchung des Verbrechens, Sergio Flamigni. [14] In fünf Büchern hat er auf der Grundlage einer Fülle von Fakten und Beweisen belegt, dass die amerikanischen und italienischen Geheimdienste und höchste Staatskreise das Komplott gegen Moro inszenierten. Sie waren durch eingeschleuste Agenten nicht nur frühzeitig über den Anschlag auf den Parteiführer informiert, sondern nutzten die BR wie andere linksradikale Organisationen für ihre Spannungsstrategie. [15]

Mit dem Mord an Moro wurde nicht nur der Linken, sondern auch der traditionell nach Links tendierenden bürgerlichen Mitte jene bis in die Gegenwart reichende schwere Niederlage beigebracht, die den Vormarsch der Rechten und Faschisten bis ins 21. Jahrhundert ermöglichte, wovon der letzte Akt, die Bildung einer Regierung mit Faschisten unter dem früheren EZB-Chef Mario Draghi, zeugt.

Erstmals zeigte sich auf dem DC-Kongress im Februar 1980, dass die Partei mit Moro nicht nur einen herausragenden Staatsmann, wie es keinen zweiten gab, verloren hatte, sondern auch ihren einflussreichen und an der Basis beliebten linken Führer, der es obendrein verstanden hatte, zwischen den verschiedenen Fraktionen der Partei zu vermitteln. Nicht zum ersten Mal zeigte sich am Beispiel Moros die Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte.

Nicht unerwähnt bleiben sollte hier, dass das Schicksal Aldo Moros, wenn auch in seiner Dimension bis dahin einmalig, aber nicht neu war. Reformistische Rezepte, für die sich unter Vertretern liberaler oder flexibler Kreise der Bourgeoisie in Krisenzeiten Befürworter fanden, stießen meist auf den Widerstand der rechten, vor allem der reaktionärsten Kräfte des Kapitals. In nicht wenigen Fällen kam es zur physischen Liquidierung der Reformer, obwohl diese - so auch Moro - die kapitalistische Gesellschaft generell nicht in Frage stellten, sondern mit einer Form der Regierungszusammenarbeit ihnen entgegen stehender Kräfte Krisen des System begegnen und es festigen oder ihm auch auf einzelnen Gebieten günstigere Bedingungen verschaffen wollten. Was das Schicksal solcher Reformpolitiker betrifft, sei an Matthias Erzberger oder Walter Rathenau in der Weimarer Republik erinnert, die versuchten, in der Außenpolitik einen realistischeren Kurs durchzusetzen.


Große Feierlichkeit - Foto: Bundesarchiv, Bild 183-Z1117-502 / CC-BY-SA 3.0 DE [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.e]>, via Wikimedia Commons

Politische Morde in der deutschen Geschichte - Staatsakt für den ermordeten damaligen Reichsaußenminister Walther Rathenau im Reichstag am 27. Juni 1922
Foto: Bundesarchiv, Bild 183-Z1117-502 / CC-BY-SA 3.0 DE [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.e], via Wikimedia Commons

Was die Rolle der USA und ihrer CIA betrifft, hat sich bis heute grundsätzlich nicht das Geringste geändert. Unverändert wird auf Drohungen, Gewalt, Mord und Terror gesetzt. Die Beispiele dafür reichen von der Haltung gegenüber China und Rußland über die zur Ukraine, zu Afghanistan, Syrien und den Palästinensern bis zu Kuba und Venezuela. Nicht zu vergessen, die Bundesrepublik ist immer mit dabei.


Neben den erwähnten Publikationen des Autors zum Thema seien u.a. erwähnt: "Agenten, Terror, Staatskomplott. Der Mord an Aldo Moro, Rote Brigaden und CIA" und "Umbruchsjahre in Italien. Als Auslandskorrespondent in Rom 1973 bis 1979", bei PapyRossa, Köln 2000 bzw. 2019.


Anmerkungen:

[1] Siehe dazu die Serie "Wie an der Wende zu den 1970er Jahre in Italien im Umfeld der radikalen Linken die Brigate Rosse entstanden", Teil 1 bis 3, im Schattenblick zu finden unter:
INFOPOOL → GEISTESWISSENSCHAFTEN → MEINUNGEN: STANDPUNKT/016 bis 018
www.schattenblick.de/infopool/geist/ip_geist_meinung_standpunkt.shtml

[2] Neue Impulse Verlag, Essen 2003.

[3] Schriftenreihe "Konkret" der DKP Berlin, Heft 1/2011.

[4] Siehe die Schrift des Autors "Compromesso storico. Der Historische Kompromiss der IKP und die heutige Krise der Linken". Reihe "Konsequent" der DKP Berlin, Heft 2/2013.

[5] Enkel des gleichnamigen Gründers 1899 der Fabrica Italiano Automobili di Torino (FIAT). Das Riesenimperium produzierte jedoch nicht nur Autos. Es war - und ist es im Grunde noch heute - der größte private Industrie- und Rüstungskonzern, u. a. mit einem Raumfahrtkonzern Snia, der seit den 80er Jahren SDI-Aufträge erhielt, an Raumfahrtprojekten von Arianespace und Eureka beteiligt war, Motoren und Hitzeschilde für Satelliten lieferte und Raketentreibstoff produzierte, der beim amerikanischen Space Shuttle und auch bei militärisch genutzten Raketen verwendet wurde. FIAT Aviazione stellte Flugzeugtriebwerke, Schiffsantriebe und Gasturbinen her. Die breit gefächerte Produktion des in fast 60 Ländern mit über 1000 Gesellschaften präsenten Konzerns reichte darüber hinaus vom Hoch- und Tiefbau über Maschinen und Anlagen, Telekommunikations- und Automatisierungstechnik, Eisen, Stahl und Kraftstoffanlagen bis zur Lebensmittelbranche, schloss Verlage, Werbung und die hauseigene renommierte Tageszeitung La Stampa ein. FIAT war als Banker und an der Börse dabei, sponserte Kunst- und Forschungsprojekte. Siehe Alan Friedman: Agnelli, das Gesicht der Macht, München 1999.

[6] Gladio und der 11.9. Politik und Terrorismus in Italien. Internationale Konferenz der ARCI in Brentonico. junge Welt, 28./29. September 2002.

[7] Siehe FN 3 u. 4.

[8] Entnommen aus Osservatore Politico vom 13. Sept. 1975. Der Herausgeber, Mino Pecorelli, war ein im Geheimdienstmillieu agierender versierter Journalist, der auch der Verwicklung Giulio Andreottis in das Mordkomplott gegen Moro auf der Spur war. Am 20. März 1979 wurde er von Mafia-Killern erschossen. Er hatte vorher angekündigt, die Rolle Andreottis in einer Serie publik zu machen. Als Andreotti 1993 der Komplizenschaft mit der Mafia und der Anstiftung zum Mord an Pecorelli angeklagt wurde, bestätigten Mafia-Bosse das. Siehe auch Francesco Pecorelli, Roberto Somella: I Veleni di "OP", Le "Notizie riservate" di Mino Pecorelli. Mailand 1994.

[9] In Anlehnung an das Wort Colpo (Putsch, Staatsstreich) wurde er selbst in Medien John Colpe genannt.

[10] Früherer Staatssekretär des "Duce", ein führender Rassenideologe, und unter Mussolini u. a. Mitherausgeber der faschistischen Tageszeitung Tevere und des Rassenhetzblattes Difesa della Razza. Almirante hatte noch kurz vor Kriegsschluss einen "Genickschusserlass gegen Partisanen" unterzeichnet.

[11] Siehe FN 2 u. 3.

[12] Roberto Faenza, Marco Fini: Gli Americani in Italia, Mailand 1976.

[13] Serravalle: Gladio, Rom 1991.

[14] Abgeordneter der IKP, später der aus ihr hervorgegangenen Linkspartei PDS.

[15] Sergio Flamigni:
- La tela del Ragno. Il delitto Moro. Mailand 1993.
- Trame atlantiche. Storia della Logia massonica segreta P2. Mailand 1996.
- Il mio sangue ricadra su di loro. Gli scritti di Aldo Moro, prigioniero delle BR. Mailand 1997.
- Convergenze parallele. Le Brigate rosse, i servici segreti e il delitto Moro. Mailand 1998.
- Il Covo di Stato. Via Gradoli e il delitto Moro. Mailand 1999.

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Quelle:
© 2021 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Mai 2021

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